Über Erinnerungen stolpern: „Gedenken an einem Ort, wo sie einst glücklich waren“
Rund 70 000 von ihnen gibt es in ganz Europa – in Anwesenheit von zahlreichen Zuschauern und Ehrengästen setzte Gunter Demnig diese Woche vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Gráf in Bratislava/Pressburg vier weitere so genannte „Stolpersteine“. Die Messing-Pflastersteine sind den Mitgliedern einer der unzähligen Familien gewidmet, die zur Zeit des Nationalsozialismus dem Holocaust zum Opfer fielen.
Die Geschichte der Familie Gráf erzählt nur einen Bruchteil der insgesamt knapp 60 000 Schicksale der Menschen, die in der Slowakei zwischen 1940 und 1945 entwürdigt, deportiert und systematisch ermordet wurden. Allein in der Slowakei blieb nur etwa ein Viertel der jüdischen Bevölkerung von den Verfolgungen des Holocaust verschont.
Anlässlich der Verlegung der Gedenksteine war die Tochter der Familie Gráf aus Großbritannien angereist. Jana Tanner berührte die Zuhörer mit den Schilderungen ihrer Familiengeschichte. Sie wuchs als die Jüngste von vier Geschwistern direkt im Zentrum von Bratislava/Pressburg auf. Mit ihrem Vater Gustáv, einem angesehenen Firmendirektor, verbindet sie zahlreiche Erinnerungen an Spaziergänge am Donauufer, Familienurlaube in den Bergen der Tatra. Jedoch hatte der unbeschwerte Teil ihrer Kindheit ein Ende, als im März 1939 das autoritäre Regime in der Slowakei an die Macht kam. Ihre ältere Schwester Mária zog noch im selben Jahr mit ihrem Ehemann nach Großbritannien, Jana selbst war gezwungen, die Schule zu wechseln und ihr Vater verlor seine Anstellung als Firmendirektor.
Denn obwohl die Familie keine Religion ausübte, mussten die Gráfs aufgrund ihres jüdischen Erbes den „gelben Stern“ tragen, wenn sie aus dem Haus gingen. Als im Jahr 1940 die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung mit der Verfolgung, Deportation und Vernichtung in Konzentrationslagern ihre schlimmste Stufe erreichte, beschlossen Janas Eltern, ihre zwei jüngsten Kinder zu verstecken. Die befreundete Familie Černák ermöglichte es Jana, mit der Geburtsurkunde ihrer verstorbenen Tochter eine neue Identität anzunehmen und stellte Kontakt zu einem evangelischen Waisenhaus in Modra/Modern her, in dem Jana die kommenden Jahre verbringen sollte.
Verfolgung und Deportation der Familie Gráf
Ihr Bruder Pável war jedoch bereits zu alt, um in einem Waisenhaus einen Platz zu finden. Zusammen mit den Eltern Gustáv und Kamila wurde er 1944 deportiert: Pavel war der einzige Überlebende – während die Mutter im Konzentrationslager Ravensbrück und der Vater in Sachsenhausen umkamen, erlebte Pavel die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald durch die US-Armee im April 1945. Er emigrierte daraufhin in die USA, wo er 2017 nach einer Berufslaufbahn als Professor für Mathematik verstarb. Als die Briefe, die Jana im Waisenhaus regelmäßig von ihren Eltern erhielt, abbrachen, kontaktierte sie die befreundete Familie Černák, die ihr von den Ereignissen berichtete. Von Frau Černák erfuhr Jana auch vom Tod ihres Halbbruders Jiři, der bereits 1942 aus seinem Wohnort Prag nach Minsk deportiert und dort vergast wurde.
„Gedenkstätte an einem Ort, an dem sie einst glücklich waren“
Über ihren Bruder Pavel gelang Maria Gráf nach dem Krieg der Kontakt zu ihrer kleinen Schwester. Durch Marias Anstellung beim Konsulat in London leitete sie den Transport der damals Fünfzehnjährigen nach Großbritannien in den Weg – dorthin, wo Jana Tanner bis heute lebt.
Die Stolpersteine vor dem Haus ihrer Kindheit haben für sie eine besondere Bedeutung: „Für mich sind sie deshalb wichtig, weil meine Eltern nie angemessen beerdigt wurden. Jetzt können wir an einem Ort an sie denken, wo sie einst glücklich waren.“
Stolpersteine als Versöhnungsarbeit
Gedenken, Erinnerung – genau diese Worte treffen die Idee hinter den Stolpersteinen. Was 1992 in Köln als Erinnerungsspur an eine Gruppe Sinti und Roma begann, die dem Holocaust zum Opfer fielen, ist mittlerweile zu einem europaweit bekannten Projekt des Künstlers Gunter Demnig geworden. „1996 verlegten wir die ersten Stolpersteine in Kreuzberg – damals noch ohne Genehmigung, also illegal“, erzählt er.
Heute habe er keine Probleme mehr damit, eine Genehmigung zu bekommen, längst zählt das Projekt als ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Zeit. Zwölf Zeilen – Platz für mehr Informationen bieten die goldenen Pflastersteine nicht. Und doch beginne mit der Verlegung der Steine meist erst die Aufarbeitung der Familiengeschichte. Die Dankbarkeit der Angehörigen sei es auch, die ihn antreibt. Und in gewisser Weise sei Demnig auch davon überzeugt, Versöhnungsarbeit zu leisten. „Wenn ich sehe, wie groß das Interesse ist, wie viele Menschen kommen – die fahren mit einem anderen Bild von Deutschland nach Hause.“
HB