„Ich wehre mich gegen jeden Totalitarismus, jeden Rassismus, jede Gewalt“
Als Jörg Peters neun Jahre alt war, musste er mit seinen vier Geschwistern und seiner Mutter seine Heimat verlassen. Wir sprachen mit ihm darüber, wie er sich an den Zweiten Weltkrieg erinnert, wie er mit seiner Familie in Deutschland ein neues Zuhause fand und was er empfindet, wenn er heute Bilder von Menschen auf der Flucht und Flüchtlingslagern in den Nachrichten sieht.
Der Zweite Weltkrieg und die Flucht
Welche Erinnerungen hast du an den Zweiten Weltkrieg?
Den Zweiten Weltkrieg habe ich im Alter von drei bis neun Jahren in Stolp/Pommern jetzt Slupsk/Polen mit meinen Eltern und vier Geschwistern verlebt. Wir hatten eine unbeschwerte Kindheit ohne Not und größere Einschränkungen. Den Krieg habe ich dadurch wahrgenommen, dass über uns die großen englischen Bomber zu den Luftangriffen nach Danzig flogen. Stolp selbst hatte seinen ersten Angriff erst wenige Tage vor unserer Flucht. Mein Vater war bis Herbst 1944 bei uns. Er leitete die Feuerwehrwache auf dem Stolper Flugplatz. Mein älterer Bruder war seit 1943 in einem Schulinternat und kam nur in den Ferien nach Hause. Am 7. März 1945 musste dann meine Mutter mit uns vier Kindern auf Anordnung der deutschen Soldaten unsere Wohnung verlassen, weil diese sich dort für die Verteidigung der Stadt vor den anrückenden Russen einrichten wollten. Zusammen mit unseren Nachbarn luden wir wenige Sachen auf einen kleinen Handwagen und begaben uns zu Fuß auf die Straße mit den langen Trecks. Mein kleiner fünfjähriger Bruder lag auf dem Handwagen. Übernachtet wurde in einer Scheune auf einem Bauernhof. Es war alles tiefverschneit und bitterkalt. Am zweiten Tag wurden wir dann vormittags von russischen Panzern aus einem Wald heraus beschossen. Die Granaten schlugen neben uns auf der Straße ein, die Pferde von den Trecks gingen durch. Meine älteste Schwester (15 Jahre) nahm meinen kleinen Bruder vom Handwagen, da schlug auch schon eine Deichsel von einem Pferdefuhrwerk auf der Stelle beim Handwagen ein, wo mein Bruder gerade gelegen hatte. Im Gegensatz zu unseren Nachbarn haben wir alles stehen und liegen gelassen und sind alle fünf auf einen fahrenden Militärlastwagen gesprungen. Wie uns dies gelungen ist, wissen wir heute immer noch nicht. Dieses Erlebnis taucht immer wieder in meinen Erinnerungen auf.
Wie setztet ihr eure Flucht fort?
Unter weiteren abenteuerlichen Verhältnissen sind wir nach weiteren zwei Tagen in Danzig angekommen und wurden in einer großen Auffanghalle untergebracht und registriert. Dann hieß es, dass wir als kinderreiche Familie mit dem Lazarettschiff „Urundi“ nach Dänemark gebracht werden sollten. Unter ständigen Fliegerangriffen haben wir dann das Schiff erreicht und wurden im Kielraum des Schiffes untergebracht. Über uns waren vier Decks mit verwundeten Soldaten besetzt. In dem Kielraum, der nass, kalt und ohne frische Luftzufuhr war, mussten wir drei Tage mit mehreren hundert Flüchtlingen zusammen leben, ohne Trinken und Essen. Nur die Kleinkinder wurden notdürftig versorgt. Die Luft war so schlecht, dass kein Streichholz angezündet werden konnte. Dann hieß es auf einmal, dass wir in Kopenhagen angekommen seien und wir durften an Deck, um frische Luft zu schnappen. Dort haben meine ältere Schwester und ich Marinesoldaten um ein Stück Brot angebettelt. Dänemark war ja bis zum Kriegende durch die deutsche Wehrmacht besetzt, die uns auch betreute. In geschlossenen Güterwagen wurden wir dann innerhalb von 2 Tagen nach Hjörring in Nordjütland gefahren und zunächst in einer Internatsschule untergebracht. Nachts wurden wir von dänischen Widerstandskämpfern beschossen.
Die Nachkriegszeit im Internierungslager
Wann und wie bist du mit deiner Familie ins Internierungslager in Dänemark gekommen und was waren deine ersten Eindrücke?
Nach Kriegsende (Anfang Mai 1945) wurden wir in die bis dahin von den deutschen Soldaten besetzten Baracken verlegt und wurden mehrmals umgelagert. Zuletzt waren wir in Aalborg in einem Internierungslager mit circa 5000 Menschen zusammen, jeweils mit 30 Personen in einem Raum. Bedrückend für mich war, dass das Lager mit einem Stacheldrahtzaun umgeben war und von dänischen Soldaten schwer bewacht wurde. Das Zusammenleben mit so vielen Menschen in einem Raum verlangte von allen Bewohnern natürlich äußerste Rücksichtnahme. Wir schliefen teilweise in viergeschossigen Betten auf Strohsäcken, die mit der Zeit völlig verwanzt waren. Ich war von den Wanzen so zerstochen, dass eine erforderliche Impfung nicht möglich war. Im Winter waren wir morgens dann eingeschneit. Im Raum stand nur ein kleiner Ofen, auf dem für alle Personen eine Schüssel zum Waschen stand. Bekocht wurden wir aus einer Großküche, wir mussten keinen Hunger leiden. Im März 1947 erhielten wir zum ersten Mal ein Lebenszeichen von meinem Vater. Die Freude war groß. Wir wurden dann im Oktober 1947 mit einem Flüchtlingstransport nach Deutschland zu meinem Vater gebracht.
Welche Bedeutung hat diese Zeit für dich?
Die Entbehrungen während der Flucht haben mich gelehrt, dankbar zu sein und mit Nahrungsmitteln sparsam umzugehen. Ich habe deshalb für die heutige „Wegwerfgesellschaft“ kein Verständnis und ich habe versucht, meine beiden Töchter entsprechend zu erziehen. Das Wort „Toleranz“ hat für mich einen hohen Stellenwert. Bei 30 Personen in einem Raum wäre ohne gegenseitige Rücksichtnahme (oftmals schwer genug) kein Zusammenleben möglich gewesen.
Inwiefern hast du damals verstanden, dass ihr geflüchtet seid?
Als kleiner Junge habe ich die Flucht insofern empfunden, als dass ich natürlich das heimatliche Umfeld mit den Freunden, mit meinem Vater und meinem älteren Bruder sehr vermisst habe.
Lehren für heute
Heute lesen wir in Büchern viel über den Zweiten Weltkrieg. Was sollten wir daraus lernen?
Ich habe für mich aus den Kriegserlebnissen gelernt, alles dafür zu tun, dass uns der Frieden erhalten bleibt. Ich wehre mich gegen jeden Totalitarismus, gegen jeden Rassismus, gegen jede Gewalt – ohne ein Antifaschist zu sein. Gegen jede diktatorischen Elemente würde ich mich zur Wehr setzen. Ich bin für die heutige demokratische Grundordnung in Deutschland dankbar und würde mich für deren Erhalt immer engagieren.
Wie sah die unmittelbare Nachkriegszeit aus?
Die Nachkriegszeit haben meine Familie und ich erst mit unserer Entlassung aus Dänemark empfunden. Wir haben teilweise mit elf Personen (unsere Familie und die meines Onkels) in zwei kleinen Räumen zusammengelebt. Mein Vater hatte nur eine kleine Anstellung bei einer Obst- und Gemüsehandlung. Wir Kinder konnten keine weitergehende Schule besuchen. Meine drei älteren Geschwister mussten die Grundschule verlassen und eine Lehrstelle annehmen, die in keiner Weise ihren Wünschen und Vorstellungen entsprach. Ich hatte das Glück, noch mit 14 Jahren in die Realschule versetzt zu werden. Erst 1950 erhielt mein Vater eine Anstellung, die es uns gestattete, eine Wohnung zu mieten und diese selbst einzurichten. Als Möbel dienten Obst- und Gemüsekisten. Wir Jungen schliefen zusammen in einem Bett. Ich hatte im Winter keine lange Hose zum Anziehen und musste mit Kniestrümpfen und kurzer Hose zur Schule. Fazit: Von meinem ersten als Laufbursche verdienten Geld habe ich mir eine lange Cordhose gekauft. 1953 hatte ich dann das Glück, durch meinen Mathematiklehrer eine Lehrstelle als Bankkaufmann zu erhalten. Über 48 Jahre habe ich diesen Beruf ausgeübt und bin dankbar und glücklich dafür.
Wenn du heute in den Nachrichten Bilder von Menschen auf der Flucht und Flüchtlingslagern siehst, was geht dir durch den Kopf?
Die Bilder von den heutigen Verhältnissen in den Flüchtlingslagern und auf der Flucht lassen mich erschüttern. Ich habe die Entscheidung unserer Bundeskanzlerin 2015 sehr begrüßt. Es muss alles getan werden, die Not der Menschen zu lindern, damit sie in ihren Heimatländern bleiben und eine Chance haben, ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Was sollte deiner Meinung nach die zukünftige Mission für die Gesellschaft und die Jugend sein?
Mein Aufruf an die junge Generation: Nehmt in eurem Leben die Chancen, die sich euch bieten wahr. Seht optimistisch in die Zukunft und setzt euch für ein weiteres Zusammenwachsen von Europa zu einer starken Wertegemeinschaft für Menschenwürde, Frieden, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Chancengleichheit ein. Kämpft für Demokratie und gegen jeden Rassismus. Nur so werden wir eine lebenswerte Zukunft erreichen.
Das Gespräch führte Hubert Kožár.