Wilhelm Palesch

Wilhelm Palesch zum 85.

Ich studiere Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität in Berlin. Per Zufall gelangte ich zu den Medientagen zum Thema „Meinungsfreiheit im östlichen Europa“, die Anfang September die Deutsche Gesellschaft e. V. organisierte und erlebte eine freudige Überraschung.

Auf der Veranstaltung blättere ich in den Auslagen verschiedenster deutschsprachiger Zeitungen aus dem östlichen Europa. Neben mir sitzt die Chefredakteurin des Karpatenblattes. Sie präsentiert kurz ihr Monatsjournal. Ein Exemplar vom Juli 2016 nehme ich mit und lese es gleich auf dem Weg nach Hause in der S-Bahn. Mein Mann wird sich bestimmt freuen: Er hat im Rahmen eines DDR-Austauschs ein ganzes Jahr in Bratislava studiert.

Gleich auf der Seite 6 sehe ich drei Fotos – das gibt´ s doch nicht! Unser Vater Wilhelm, der erste Gemeindevorsteher von der römisch-katholischen Kirche Tscheljabinsk, der auch mich 1996 getauft hat. Ich wusste, dass Herr Palesch eine deutsch-slawische Herkunft hat, deswegen hat er sich schon 1990 entschieden, nach Russland zu ziehen und da eine echte katholische Kirche aufzubauen.

Vertreibung aus Zeche

Aus Zeche/Malinova wurde die Familie Palesch im Krieg vertrieben. „Dem Priester wurden während seines Lebens viele Steine in den Weg gelegt“ – schreibt Mária Luprichová, Bürgermeisterin von Zeche. Zwangsarbeit in Sibirien, die ersten theologischen Erfahrungen unter kriegsgefangenen und -unterdrückten Deutschen, Polen, Litauern. Auch 1990 war der Aufenthalt eines Ausländers in unserer geschlossenen Stadt mit 10 Militärwerken und einer Atomkraftwerk in der Nähe illegal. Vater Wilhelm kam angeblich privat zu meinen entfernten Verwandten und nicht direkt aus Erfurt, wo er damals wohnte und predigte, sondern über Duschanbe, die tadschikische Hauptstadt, von unserem Bischof Josef Wert eingeladen.

Niemand in meiner Schule, gerade vor dem Abschluss, durfte wissen, dass wir einem katholischen Missionar, noch dazu einem Deutschen, Unterschlupf geben. Meine tüchtig verdiente Goldmedaille war ohnehin bedroht und meine Eltern hatten den guten Ratschlag bekommen, mir eine neue Geburtsurkunde, selbstverständlich ohne deutsche Spuren zu kaufen.

Erst 1996 habe ich mich taufen lassen, bewusst katholisch, wie meine Großeltern. „Ihre“ Kirche, ihre von kriegsgefangenen Polen 1914 gebaute „Kościoł“, gibt es jetzt nur noch auf Ansichtskarten und in der Stadtenzyklopädie. Leider durften wir in Deutschland unseren Sohn nicht katholisch taufen lassen, weil sein Vater kein Katholike ist und ich keine rechtskräftige Taufurkunde aus Sibirien mitbringen konnte.

Wilhelm Palesch

Wilhelm Palesch bei einem Gottesdienst in Zeche.

Wilhelm Palesch zum 85. Geburtstag

Vater Wilhelm, wie habe ich mich gefreut, Sie wieder zu sehen! Der liebe Gott hat mir das Karpatenblatt in die Hand gegeben! Sie werden im Februar 85 Jahre alt, aber ich weiß immer noch, wie fleißig Sie mit uns Russisch gelernt haben! Ich musste vor der Predigt alle Betonungen markieren (das Schwierigste im Russischen), einige Vokabeln und Präpositionen ausschreiben, am liebsten mit Zeichnungen: um, auf, an… Wenn ich mich nun in meinem Spätstudium völlig erschöpft und matt fühle, denke ich immer an Sie: Wie haben Sie mit knapp 60 eine neue Sprache komplett erlernt, dabei auf so einem hohen Niveau, mit altslawischen Einflüssen, allegorischen Parallelen, Bibelübersetzungen in einer völlig anderen Tradition? Wie haben Sie im Dunkeln auf unserem immer unwegsamen Gelände so viele Besuche geleistet, so viele Jugend- und Lehrertreffen organisiert? Unsere Kirche war immer ein Lernort für alle Deutschinteressierten, für Pädagogen, die nicht nur Anton Makarenko lesen möchten. Erst von Ihren Kollegen aus Chicago, Rom, Wien und Ulm habe ich zum ersten Mal die Namen von Maria Montessori und Ciara Lubich gehört.

Sie haben in Zeche einen Baum gepflanzt, haben „die Wurzeln Ihrer Heimaterde zurückgegeben“, und in meiner Seele sind die kleinen goldenen Wurzeln des Guten, des Reinen und Hellen für immer geblieben. Ich bedanke mich für die Möglichkeit, schon als Erwachsene meine verbotene und verfluchte Muttersprache mit Ihnen gelernt zu haben, meine ersten Glaubenszeichen wahrnehmen zu dürfen, lateinische Gebete, von meiner Oma vermittelt, richtig lesen zu können, auch meinem kleinen Sohn mal Ihre Rosenkranzkette zeigen zu können und jetzt – selber von Ihnen lesen zu lassen. Danke.

Nataliya Rittsel

(Die Autorin ist Russland-Deutsche und studiert Grundschulpädagogik an der Humboldt-Universität in Berlin. Die Spätaussiedlerin stammt aus dem Ural und hat 15 Jahre als Russisch-, Literatur- und Deutschlehrerin sowie als Korrespondentin für die Moskauer Deutsche Zeitung gearbeitet.)