Ende Zweiter Weltkrieg

Eine Aktentasche voll Würfelzucker

Es naht der 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa. Auch die, die damals noch Kinder waren, sind nach 75 Jahren betagte Frauen und Männer. Und fast ein jeder von uns hat damals etwas erlebt, das bis heute nicht aus unseren Gedächtnissen verschwunden ist. So auch meine kurze persönliche Geschichte.

Wie viele Pressburger verließen auch wir – das heißt meine Mutter, meine Schwester, ich und mein Onkel mit Familien – kurz vor der Osterwoche Pressburg vor der nahenden Front. Unser Evakuationslager wurde in einem Waldstück in Theben am See errichtet. Unter einem der Holzhäuser war auch ein Schutzraum, wo uns in der Nacht vom 3. auf den 4. April 1945 auch zwei Rotarmisten „besuchten“, es waren wohl die Sturmspitzen der Roten Armee nahe der March/Morava.

Am nächsten Morgen hieß es, in Pressburg wird nicht mehr gekämpft und wir könnten wieder nach Hause gehen. Ich weiß nicht mehr, ob wir uns schon am 4. oder erst am 5. April auf den Heimweg gemacht haben. Die Erwachsenen haben beschlossen, sich zu teilen und Pressburg aus zwei Richtungen zu erreichen. Meine Mutter wählte mit uns, unserer damals schon fast erwachsenen Cousine und ihren beiden Geschwistern Mitzi und Walter die Richtung über Theben/Devin.

Mitnehmen konnten wir eigentlich nichts

Meine Mutter packte nur ihre Schreibmaschine, etwas zum Essen und zum Trinken in eine Einkaufstasche, nahm uns an den Händen und es ging los. Wir verließen bald den Wald und wollten über ein Feld die nächste Behausung erreichen. Kaum waren wir aus dem Wald raus, begannen deutsche Soldaten vom rechten Marchufer auf alles, was sich bewegt mit Minenwerfern zu schießen. Wir sprangen in den nächstliegenden Trichter, den ein Mineneinschlag hinterlassen hatte. So ging es den ganzen Vormittag über, bis wir endlich aus der Schussweite der Minenwerfer gelangten und vor uns das erste Haus sahen.

Am Tor des Hauses, wahrscheinlich ein Weinkeller, standen Rotarmisten Wache und als sie uns bemerkten, winkten sie uns zu, wir sollten zu ihnen kommen. Es blieb ja meiner Mutter auch nichts Anderes übrig, als dem Wink zu folgen. Unsere Mutter hat uns befohlen, kein Wort zu sagen.

Wir sprachen ja nur deutsch

Mutter wurde ins Innere des Hauses „eingeladen“, um ein Gläschen Wein mit den Soldaten zu trinken. Zum Glück kam sie sehr rasch wieder raus und wir konnten weitergehen.

Auf der Straße waren weder Zivilisten noch Soldaten zu sehen. Da überholte uns ein Lkw mit Soldaten. Sie boten uns an, uns ein Stück mitzunehmen. Als sich herausstellte, dass es rumänische Soldaten sind, hat meine Mutter zugestimmt und die Soldaten halfen uns, auf die Ladefläche zu steigen. Wir Kinder waren todmüde und konnten uns endlich ein wenig ausruhen.

Einem der Soldaten ist Mutters Schreibmaschine ins Auge gefallen. Er zog eine schwarze Aktentasche hervor, die prallvoll mit Würfelzucker gefüllt war und bot meiner Mutter ein Tauschgeschäft an: ihre Schreibmaschine gegen den Würfelzucker.

Meine Mutter, praktisch veranlasst, ging auf den Handel ein. Es war noch immer Krieg und so eine Menge Zucker zu dieser Zeit war wohl ein guter Tausch. Vor der „Patronka“ bog der Lkw ab, wir stiegen ab und dankten den rumänischen Soldaten fürs Mitnehmen. Der Soldat gab letztlich die Schreibmaschine meiner Mutter zurück. Zu Fuß gingen wir dann über die jetzige Prager Straße Richtung nach Hause. Wir machten aber erst Halt bei unserem Onkel, wo die erste Gruppe schon um 12 Uhr aus Theben am See angekommen war. Groß war die Freude über unsere Zusammenkunft. Der „rumänische“ Würfelzucker ist uns dann in den ersten Tagen des neuen Lebens in Pressburg gut gekommen.

Gustav Güll