Johannes Göbel

Von Ober-Metzenseifen nach Amerika

Der 14-jährige Johannes Göbl wusste nicht, was ihn erwartet, als er 1886 mit seiner Schwester die Reise von Ober-Metzenseifen/Vyšny Medzev zu seinem Cousin in Cleveland, Ohio, antrat. Er hoffte auf ein besseres Leben. Bald merkte er aber, dass dies nicht so einfach sein würde. Lesen wir, was er dazu in seiner Autobiographie schrieb.

„Wir verließen Metzenseifen Ende September, um am 14. Oktober 1886 in Cleveland anzukommen. Die Reise und Ankunft in Amerika war eine weitere aufregende Erfahrung in meinem Leben. Ich war 14 und meine Schwester Mary 17 Jahre alt. Wir reisten in der vierten Klasse, genau wie das Vieh in diesem Land. Der Wagon des europäischen Zuges, in dem wir fuhren, war wie ein amerikanischer Güterwagen, mit Ausnahme von Fenstern und Bänken im Inneren des Wagens. Es gab nicht genügend Sitzplätze für alle Passagiere, so dass wir uns auf den Boden setzen mussten. Nachts lagen Männer, Frauen und Kinder übereinander und versuchten zu schlafen.“

Überfahrt nach Amerika

„Am dritten Tag kamen wir in Bremen an. Wir wurden dort in einem Raum eines Gebäudes am Hafen untergebracht. Uns wurde gesagt, dass jeder einen Eimer kaufen müsse, um sein Essen an Bord des Schiffes zu bringen. Jeder Koje waren zwei Personen zugeordnet. Meine Schwester und ich besetzten die gleiche Koje. Der Gestank war schrecklich. Der Ort war voller Menschen und es gab keine Belüftung. Ich habe meinen Eimer zweimal benutzt – für die erste und letzte Mahlzeit.

John Gabel
Von Bremen nach Baltimore fuhren Dampfer des Norddeutschen Llyod

Die meisten anderen waren wie wir seekrank. Die in den oberen Kojen erbrachen sich gegen die in den unteren Kojen, und niemand schien sich darum zu kümmern. Diejenigen, die nicht zu krank waren, weinten und beteten. Das Schiff schaukelte so sehr, dass die Leute aus ihren Kojen geworfen wurden. Frauen und Kinder schrien. Meine Schwester weinte und betete an meiner Seite. Einmal sagte sie: Johannes, wir sinken. Ich antwortete, lass uns sinken. Mir war alles egal. Ich war wirklich so krank, dass mich nichts interessierte. Am zehnten und letzten Tag gingen wir an Deck, froh, dass das Ende der Schiffsreise so nahe war.“

Ankunft in Baltimore

„Als wir den Hafen von Baltimore betraten und so viele Menschen an Land sahen, war ich ziemlich aufgeregt. Mein einziger Gedanke war, vom Dampfer wegzukommen und diese schreckliche Erfahrung hinter mir zu lassen.“

Gepolsterte Sitze und erste Banane

„Wir waren ungefähr 12 Stunden in Quarantäne. Dann setzte man uns gemäß dem in unseren Unterlagen stehenden Reiseziel in einen Zug nach Cleveland. Ich war schockiert, so viele gepolsterte Sitze in dem Zug zu sehen. Nach der Abfahrt kam ein Junge durch den Wagen und verkaufte Obst. Wir beide waren hungrig, also kaufte meine Schwester ein paar Bananen. Wir hatten noch nie zuvor Bananen gesehen und wussten nicht, wie wir sie essen sollten. Bald fanden wir es heraus, nachdem wir in die Schale gebissen hatten, und ich fand, dass die Frucht sehr gut war.”

John Gabel
Briefmarke von 1952 zum 125. Jahrestag der Baltimore & Ohio Eisenbahn

Beim Cousin in Cleveland

„Am zweiten Tag kamen wir in Cleveland an. Cousin John Gabel erwartete uns am Bahnhof. Er brachte uns zu seinem Bruder Paul, der uns in seinem Haus willkommen hieß. Dort sollten wir mit seiner Familie leben.

Am nächsten Tag brachte mich John in ein Bekleidungsgeschäft und kleidete mich komplett ein. Am folgenden Sonntagnachmittag kamen einige Freunde und Verwandte zum Haus, um die Neuankömmlinge zu sehen. Sie betrachteten uns und stellten viele Fragen. Ich war in einen neuen Anzug gekleidet, zum ersten Mal in meinem Leben gab es neue Schuhe und einen neuen Hut. Cousin John fragte mich, wie ich mich fühle. Ich entgegnete, alles sei prima, nur die Schuhe täten ein wenig weh. Darauf sagte er: Natürlich tun sie weh, so wie du sie angezogen hast. Trage den rechten Schuh am rechten Fuß und sie werden nicht wehtun.“

Die entscheidende Erkenntnis

„Im Alter von 15 Jahren, nur neun Monate nachdem ich in dieses Land gekommen war, wurde mir klar, dass es ein großes Handicap ist, ohne Ausbildung zu sein. Ich musste mich auf andere verlassen, die mich so behandelten, als wäre ich ein dummes Kind. Jetzt begriff ich: Um in dieser Welt erfolgreich zu sein, muss ich lernen, Dinge selbst zu tun und meine Unabhängigkeit zu erlangen.

Mein Ziel war es, einen Weg zu finden, mich weiterzubilden: Zuerst richtig Deutsch lesen und schreiben zu lernen, dann Englisch sprechen, lesen und schreiben zu lernen. Ich war 15 und lebte bei einer deutschen Familie in Cleveland. Sie lasen die deutsche Tageszeitung, die mir Gelegenheit gab, das Lesen zu studieren. Innerhalb von zwei Wochen konnte ich die meisten Wörter in der Zeitung lesen. Dann fing ich an, die Wörter zu schreiben, und nach zwei weiteren Wochen konnte ich einen Brief schreiben und an meinen Vater schicken. Er war sehr zufrieden mit meinen Bemühungen.”

Mit 16 nach Chicago

„Ich hatte mich mit John Waganer angefreundet, der aus Chicago kam. Diesem war Cleveland nicht groß genug und er ging zurück. Er drängte mich, auch nach Chicago zu kommen, um die Möglichkeiten dieser schnell wachsenden Stadt zu nutzen. Im Februar 1889, mit 16 Jahren, verließ ich meine Verwandten, Freunde und Cleveland und machte mich auf den Weg nach Chicago. Ich wusste, dass mein weiterer Lebensweg nicht mit Rosen bedeckt sein wird, dass ich einen harten, steinigen Weg begann und dass meine einzige Rettung darin bestand, der Welt zu beweisen, dass Energie, Mut und Ehrgeiz zum Erfolg führen.”

Wie wir wissen, war John Gabels Weg erfolgreich. Die Schwierigkeiten dabei sind eine eigene Geschichte.

Dr. Heinz Schleusener