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Antworten auf das Untergraben der Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats

Aktuellen Zeitdiagnosen zufolge sind viele Menschen entgeistert darüber, was in Deutschland und in anderen westlich geprägten Ländern passiert. Wie der Soziologe Hans Joas und die Philosophin Susan Neiman zurecht hervorheben, sollte im Gemeinwesen jeder das Gefühl haben, dass er gehört wird und dass es im Miteinander ein grundlegendes Gefühl der Gerechtigkeit gibt. Ist das nicht gegeben, dann bröckelt der Zusammenhalt. Das ist heute der Fall, weil eine grundlegende Machtverschiebung in Richtung Ökonomie gegeben ist.

Viele Menschen haben das Gefühl, dass der Einzelne nicht mehr als Souverän entscheiden kann, weil er Gefangener des Systems ist. Wenn Menschen sehen, dass Manager oder Rapstars hundertmal mehr verdienen wie normale Arbeiter, dann merkt jeder Bürger, dass hier etwas aus der Balance geraten ist. Das hat eine ungeheure demoralisierende Wirkung auf das Gemeinwesen und es untergräbt die moralischen Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates.

Wir stehen in Europa mitten in Prozessen globaler gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Umbrüche. Das Gesellschaftsmodell der neoliberalen Marktwirtschaft, das den sozialen Anspruch des Einzelnen nicht mehr hinreichend beachtet, steuert einen radikalen Kurs der Umverteilung zulasten der Menschen, die bereits benachteiligt sind. Darauf weisen auch die deutschen Armutsberichte hin. Kinderarmut und Ausgrenzung sind von neoliberalen Denk- und Handlungsmustern nicht zu trennen. Ellenbogenmentalität und soziale Kälte breiten sich weiter aus und spalten die Gesellschaft. Der andere wird häufig zum Objekt der eigenen selbstbezogenen Wünsche.

Die Angst vor dem Anderen

Diese Umbrüche und Entsolidarisierungstendenzen erzeugen bei vielen Menschen Unsicherheit. Sie finden keinen ausreichenden Ratgeber mehr und leben in existentieller Angst. Weit verbreitet ist die Angst vor dem Anderen. Noch vor Jahrzehnten hatte man Angst vor einem bestimmten Schuldigen, den man ausmachen und bekämpfen konnte. Heute kann man die Ursachen der Angst nicht mehr dingfest machen und gezielt angehen. Es können verschiedene, miteinander verwobene Ursachen ausfindig gemacht werden. Liegen sie im Beziehungsgeflecht mitten unter uns? Sozialpsychiater sprechen von Menschen mit „Sozialphobie“ und weisen sogar auf eine sich entwickelnde „autistische Gesellschaft“ hin. Sie sehen in der autistischen Beziehungsstörung mit der ihr eigenen Gefühlskälte und Distanz zum anderen Menschen eine Gefahr für die Demokratie, für das Denken in Freiheit, für die Liebe zum Leben.

Das erkannte bereits 1974 der Psychoanalytiker und Sozialphilosoph Erich Fromm in seiner sozialgeschichtlichen Studie über die „Anatomie der menschlichen Destruktivität“. Fromm beschreibt den biophilen Menschen und den nekrophilen Menschen: Der biophile Mensch pflegt Liebe zum Leben durch Hingabe, Freude und Kreativität; der nekrophile Mensch hat Destruktivität, Mechanik und Technik des Lebens im Blick, die sich in Macht, Gier und Ichbezogenheit äußern.

Bemerkenswert an dieser Studie ist ihre Aktualität. Fromm warnt vor jenen Menschen, die allein ihren kühlen und berechnenden Verstand benutzen und das „Herz verhärten“.

Die demokratische Antwort

In seinen moralischen Schriften spricht der weltweit geachtete italienische Humanist Umberto Eco davon, dass er durch die Kraft des Wortes „Freiheit“ neu geboren wurde. Er fordert mit eindringlichen Worten auf: „Wir müssen wachsam bleiben, damit der Sinn dieser Worte nicht wieder in Vergessenheit gerät. Der Ur-Faschismus ist immer noch um uns, manchmal in gutbürgerlich-ziviler Kleidung.“ Er kann in den unschuldigsten Gewändern daherkommen. Es ist unsere Pflicht, ihn zu entlarven und mit dem Finger auf jede seiner neuen Formen zu zeigen, denn Freiheit und Befreiung sind eine niemals endende Aufgabe.

Auf diese immerwährende Aufgabe weist auch die Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2016, Carolin Emcke, hin: Demokratie ist eine freiheitliche Ordnung, in der immer wieder nachjustiert werden muss und kann, was nicht gerecht war bzw. ist. Dazu braucht es auch eine Fehlerkultur, eine öffentliche Diskussionskultur, die nicht durch wechselseitige Verachtung, sondern durch wechselseitige Neugierde geprägt ist. Dadurch können Differenzen überwunden werden – und Empathie kann entstehen.

Diese zu praktizierende Demokratie braucht das rechtsstaatlich geordnete Gemeinwesen, das die uneingeschränkte Anerkennung der Würde jedes Menschen und die daraus folgende Gleichheit der Verschiedenen achtet. Sie ist im beginnenden 21. Jahrhundert ein zentrales ethisches Prinzip geworden, das als Antwort auf extrem demütigende Erfahrungen vieler Menschen in zurückliegenden Jahrhunderten, besonders im 20. Jahrhundert und damit als Ergebnis eines Bildungsprozesses der westlichen Demokratien verstanden werden kann: Das Recht ist die Basis für das Zusammenleben. Es schützt die unantastbare Würde des Menschen.

Die Rechtstexte enthalten verbindliche Normen, machen aber keine Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit. Diese Spannung zwischen Realität und Idealität ist eine bewegende Kraft des republikanischen Rechtsstaats, die sich an Erich Fromms Bild vom biophilen Menschen orientieren kann: Liebe zum Leben pflegen durch Hingabe, Freude und schöpferisches Handeln.

Prof. Dr. Dr. Ferdinand Klein