Flüchtlinge sind Freunde, die wir noch nicht kennen

Mein persönlicher Beitrag folgt dem Humanisten, Ethiker und Arzt Albert Schweitzer, der den „Ärmsten der Armen“ im afrikanischen Urwald in Lambaréné half: „Man muss etwas, und sei es noch so wenig, für diejenigen tun, die Hilfe brauchen, etwas, was keinen Lohn bringt, sondern die Freude, es tun zu dürfen.“ Trotz mörderischen Hasses in Bruderkriegen bewahrte er lebenslang den Geist der Verständigung lebendig.

Schweitzer war mit dem Geist seiner Zeit „in vollständigem Widerspruch“. Er ermöglicht mir Fragen an mich zu stellen, die gerade heute nichts an Dringlichkeit verloren haben. Er sprach mit Menschen – und nicht über Menschen.

Erinnern an die Flüchtlingskrise 2015/2016

Vorbemerkung: Man könnte einwenden, dass der folgenden Darstellung der Geruch des Narzissmus, der krankhaften Liebe zur eigenen Person, anhafte. Doch in neueren Beiträgen zur Forschung, Lehre und Lebenspraxis wird der Selbstdarstellung des Wissenschaftlers Raum gegeben, da sie zu einem nicht unerheblichen Erkenntnisgewinn beiträgt. Diesem Forschungsinteresse folge ich, das sich nicht hinter distanzierte Begriffe über Menschen und Sachverhalt versteckt.

Als Antwort auf die in den Jahren 2015/2016 entstandene Flüchtlingskrise wurde in der Oberbayerischen Kleinstadt Bad Aibling der Kreis Migration Bad Aibling e.V. gegründet. Diese Bürgerinitiative suchte dringend Patinnen und Paten, die sich um die Belange der Flüchtlinge und Migranten kümmern und die Bereitschaft mitbringen, selbst zu lernen und sich auf kulturelle Unterschiede einzulassen, sie solange zu begleiten und zu unterstützen, bis sie ihr Leben selbst gestalten können.

Dieses selbstlose Engagement vor Ort ermutigt und lässt hoffen. Bald hatte der Kreis Migration etwa 250 Helferinnen und Helfer, die die über 400 geflüchteten Menschen, die in vier Containerhäusern und in zwei Turnhallen lebten, begleiteten.

Persönliche Fluchterfahrung

In Bad Aibling wurden schon 2015 die ersten Flüchtlinge in der Turnhalle des Gymnasiums untergebracht. Ich wollte diese Menschen einfach nur sehen und schaffte endlich einen längeren Blick in den großen Raum, in dem ich die vielen Menschen dicht nebeneinander liegend, sitzend oder schweigend sah. Diesen Blick werde ich nie vergessen, denn ich konnte kein menschliches Antlitz entdecken und mit niemandem kommunizieren. Plötzlich tauchten Erinnerungen an meine Flucht aus Schwedler am 12. Oktober 1944 auf. Der Weg führte meine Eltern und mich über Umwege in die Turnhalle eines kleinen Ortes in der Nähe der oberschlesischen Stadt Kattowitz (jetzt Katowice in Polen).

In Bad Aibling war ich tief bewegt. Die Ordnungshüter führten mich heraus. Ich stand angesichts des Leids, das die Menschen ertragen mussten, fassungslos da und schwieg. Erst Stunden später erinnerte ich mich an ein Wort des Philosophen Martin Heidegger: „Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens“.

Die Gegenwart für eine ungewisse Zukunft gestalten

Bald wurde in Bad Aibling die Begegnungsstätte„Café Friends“ im katholischen Gemeindehaus St. Georg eröffnet. Jeden Samstag konnten die geflüchteten Menschen und Bürger der Stadt sich untereinander austauschen und bei Kaffee, Tee und Kuchen kennenlernen.

Mein junger Freund, der 19-jährige Christian aus Mali, hatte sein Leben gerade noch retten können – seine Eltern und Geschwister nicht mehr. Christian versuchte mit viel Kraft sein Leben in die Hand zu nehmen.

Neben weiteren gemeinsamen Aktivitäten (Ausflüge, Wanderungen, alte Fahrräder reparieren u.v.m.), gab es auch den Club der Tennisspieler, eine Ausstellung des Kulturvereins mit dem jungen Künstler Armand aus Senegal und ein „Come Together“.

Besonders in Deutschkursen halfen meine Frau und ich einigen Kindern und einer syrischen Familie mit ihren vier Kindern. Noch heute begegnen wir Kursteilnehmern, die in verschiedenen Berufsfeldern integriert sind.

Come Together am 31. Januar 2016

Gabriele und Peter Greither luden alle Asylbewerber, deren Paten und alle Helfer vom Kreis Migration mit ihren Familien zu einem „Come Together“ ein. Der Titel des Festes beschrieb treffend, um was es geht: Menschen begegnen, sich kennenlernen, Barrieren abbauen. Gemeinsam kann geredet, gegessen und getrunken werden, all das mit dem verbindenden Element der Musik zwischen allen Nationen, Kulturen und Sprachen! Das musikalische Programm wurde von einheimischen Künstlern und Musikern, die am Ende ihrer Flucht in Bad Aibling angekommen sind, gestaltet.

Das Gute im Menschen sehen

Menschen helfen aus unterschiedlichen Beweggründen zur Freude der Flüchtlinge. Ich bin tief gerührt, wenn ich sehe, wie selbstverständlich der Austausch von Blicken, Taten und Worten erfolgt – ohne Pathos, einfach so, von Mensch zu Mensch.

Mein Denken und Handeln ist bemüht Albert Schweitzers „Grundidee des Guten“ in Wort und Tat zu verwirklichen.

Flüchtlinge 2016
Das Gute im Kind sehen

2016 schaute ich aufmerksam und mit teilnehmender Freude einem schöpferisch gestaltenden Flüchtlingskind bei einem Treffen im Café Friends des Kreis Migration zu.

Meine Erfahrungen wollen stellvertretend für viele Patinnen, Paten und Helfer verstanden werden. Sie teilen dem Bösen in der Welt eine Absage und folgen vermutlich weitgehend der „Grundidee des Guten“, die wir dem Träger des Friedensnobelpreises Albert Schweitzer verdanken. Die Idee des Guten lebte er mit Menschen und Tieren bis zu seinem Lebensende mit über 90 Jahren: Schweitzer verstand sein Handeln als freudigen Dienst am Menschen und der menschlichen Gemeinschaft.

Univ.-Prof. Dr. phil. et Dr. paed. Prof. h.c. Ferdinand Klein